Sep 30 2016

Rückenschule ist nicht gleich Rückenschule

Stefan Peters, Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS) e.V.

“Möglich, dass sie wirksam sind, aber es besteht keine überzeugende Evidenz nach 47 Jahren der Forschung”. So urteilt eine kürzlich veröffentlichte Übersichtsarbeit über Rückenschulen [1], die auch gleich von der Ärztezeitung aufgegriffen wurde [2]. Das sollte man sich genauer anschauen.

Dass sich die Forschung um das Thema Rückenschule kümmert, macht Sinn! In der generellen Sichtweise von Rückenschmerzen und damit natürlich auch in Prävention und Behandlung hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Rückenschulen wurden dabei immer wieder kritisch unter die Lupe genommen. Vor knapp 20 Jahren (1987) schrieben Linton und Kamwendo in der Fachzeitschrift Physical Therapy, dass die Literatur “wenig Unterstützung bietet für den Gedanken, das eine Rückenschule Variablen beeinflussen kann wie Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, Arbeitsstatus, Schmerzintensität und -dauer (…)” [3]. In Deutschland wurde Rückenschulen insbesondere nach einem Health Technology Assessment von Lühmann und Kollegen im Jahr 1997 [4] mangelnde Evidenz bescheinigt und 2001 schrieben Maier-Riehle und Härter als Fazit einer Metaanalyse: “Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Konzept von Rückenschulen verbessert und systematisch re-evaluiert werden sollte“ [5].

Es hat sich was getan!

Die angemahnte Verbesserung haben sich viele zu Herzen genommen. 2007 ist im Deutschen Ärzte-Verlag das Lehrbuch „Rückengesundheit“ erschienen [6], gemäß dessen evidenzbasiertem Kurskonzept der DVGS seine Rückenschul-Kursleiter ausbildet. Auch gibt es in Deutschland die so genannte Konföderation der deutschen Rückenschulen (KddR), der sich einige Verbände angeschlossen haben, die im Bereich Rückenschule tätig sind. Die KddR hat ebenfalls ein Manual „Neue Rückenschule“ zur Kurskonzeption [7].

Ein zentraler Kritikpunkt an früheren, traditionellen Rückenschul-Programmen betraf deren überholten, biomedizinischen Ansatz, wobei sie Rückenschmerzen, bzw. Rückenschäden als Resultat aus mechanischer Belastung in den Vordergrund stellten. Die tatsächlich relevanten, wissenschaftlich erwiesenen Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen wurden selten aufgegriffen [6,8].

„Modernen Rückenschulen“ kann man hingegen als „multidimensionale Programme“ ([9], S. 20) bezeichnen.

Sie bauen auf einem biopsychosozialen Ansatz auf, beinhalten Bewegung, setzen diesbezüglich auf eine langfristige Bindung und zeigen Coping Strategien auf. Der Rücken wird nicht als „Schwachstelle“ darstellt, welche „Schutz“ braucht, sondern als starke und bewegliche Einheit. Abgesehen wird von jeglichen Strategien, die entweder direkt oder indirekt Bedrohung oder Angst vor Rückenschmerzen oder Bewegung auslösen [6,7,10,11,12,13].

Warum die eingangs erwähnte Übersichtsarbeit zu kurz greift

In der eingangs genannten Übersichtsarbeit über Rückenschul-Programme [1] bleiben die beschriebenen Entwicklungen außer Acht. Die Autoren beziehen in ihrem Artikel Untersuchungen mit ein, die bis zurück in die 80er Jahre reichen und es ist sehr wahrscheinlich, dass einige der Programme alten Grundsätzen verhaftet sind. Im Artikel wird für die Charakteristik der eingeschlossenen Programme eine große Heterogenität beschrieben, aber es wird nicht diskutiert, wie sich inhaltliche Unterschiede im Detail auf die Wirksamkeit von Rückenschulen auswirken können. In der Beschreibung der Interventionskomponenten taucht sehr oft „Education“ auf. Es leuchtet jedem ein, dass Edukation äußerst unterschiedlich ausfallen kann.

In den Berechnungen, die in der Übersichtsarbeit von Straube et al. [1] durchgeführt wurden, schneidet eine Studie besonders schlecht ab und zieht damit das Gesamtergebnis herunter. Die Studie stammt von Ribeiro et al. [14]. Wenn man sich das verwendete Rückenschulprogramm anschaut, so ist darin weder die Rede von einer nachhaltigen Förderung von körperlicher Aktivität, noch ist die Rede von Coping Strategien oder psychosozialen Risikofaktoren der Chronifizierung. Zentral scheint Folgendes zu sein: „ergonomic guidelines relevant to back problems, such as standing and sitting postures, reaching, kneeling, twisting, lifting, pushing and pulling” [14]. Zwar heißt es auch, dass noch Übungen für Rücken- und Bauchmuskulatur durchgeführt wurden [14], aber nach einer modernen Rückenschule klingt das Programm nicht. Tavafian et al. [15,16] haben mit ihrem Programm hingegen deutlich bessere Ergebnisse erzielt. Schaut man hier in die Interventionsbeschreibung, so ist von einem „Empowerment Ansatz“ die Rede, bei dem Teilnehmer ihre eigenen Ziele festsetzen. Es wurde wohl ein Trainingsprogramm entwickelt, sowohl auf Kraft als auch auf Ausdauer bezogen, abgestimmt auf jeden Teilnehmer und zudem wurde das Programm interdisziplinär angeboten [15]. Zugegeben, die Beschreibungen von solchen komplexen Interventionen sind in Studien oft zu kurz als dass man ein vollständiges Bild erhält. Dennoch kommt das Programm von Tavafian et al. [15,16] dem Verständnis einer modernen Rückenschule wohl näher als das Programm von Ribeiro et al. [14] und doch wurden sie in der gleichen Analyse zusammengeworfen, weil es sich in beiden Fällen um eine „Rückenschule“ handelt. Insgesamt ist nicht klar, wie viele der in der Übersichtsarbeit eingeschlossenen Studien ein Schulungsprogramm mit starker biomedizinischer Ausrichtung hatten. Nachgewiesen ist allerdings, dass Schulungsprogramme mit biomedizinischer Ausrichtung bei Schmerzpatienten sogar negative Wirkungen haben können (zusammenfassend [17]).

Zudem spielt der Anteil an Bewegung eine große Rolle in Rückenschulen und wie Bewegung vermittelt wird. Miles und Kollegen haben vor einigen Jahren untersucht, was Selbstmanagementprogramme bei muskuloskelettalen Schmerzen erfolgreich macht. Im Ergebnis erscheinen Programme effektiver, die eine Erhöhung der körperlichen Aktivität erreichen [17]. Für den Einsatz von körperlichem Training („exercise“) in Prävention und Behandlung von Rückenschmerzen besteht eine starke Evidenz [10,11,18].

May ([10], S. 206) schreibt deshalb völlig zurecht: „Daher, obwohl die Evidenz für Schulung als Komponente von Selbstmanagement für (…) chronische Rückenschmerzen positiv aber schwach ist, besteht eine stärkere Evidenz für die Komponente körperliches Training und letzteres sollte als ein Kernelement von Selbstmanagement gesehen werden.“

Fazit

In der Erforschung von Rückenschulen und deren Wirksamkeit gibt es weiter viel zu tun. In der Praxis hat sich allerdings gerade aufgrund vergangener Forschung schon viel getan. Dies wird in der hier angesprochenen Übersichtsarbeit von Straube et al. [1] nicht abgebildet. Man kann hier so antworten, wie es andere Rückenschmerzexperten dieses Jahr schon an anderer Stelle getan haben: „(…) poor education, which is not in line with a contemporary understanding of pain mechanisms, results in poor outcomes. However, not all education is the same and to treat them as such within a meta-analysis runs the risk of throwing the baby out with the bathwater” [19].

Referenzen:

[1] Straube, S., Harden, M., Schröder, H., Arendacka B., Fan, X., Moore R.A. & Friede, T. (2016). Back schools for the treatment of chronic low back pain: possibility of benefit but no convincing evidence after 47 years of research – systematic review and meta-analysis. Pain, 157, 2160-2172.
[2] Oberhofer, E. (2016). Rückenschule. Auch nach fast 50 Jahren kaum Evidenz zur Wirksamkeit. Ärztezeitung, 20.09.16.
[3] Linton, S.J. & Kamwendo, K. (1987). Low back schools: A critical review. Phys Ther, 67(9), 1375-1383.
[4] Lühmann, D., Kohlmann, T. & Raspe, H. (1997). Die Evaluation von Rückenschulprogrammen als medizinische Technologie. HTA-Reports, Bundesministerium für Gesundheit.
[5] Maier-Riehle, B. & Härter, M. (2001). The effects of back schools – a meta-analysis. Int J Rehabil Res, 24(3), 199-206.
[6] Pfeifer, K. (2007). Rückengesundheit. Grundlagen und Module zur Planung von Kursen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag.
[7] Flothow, A., Kempf, H.-D., Kuhnt, U. & Lehmann, G. (2010). KddR-Manual Neue Rückenschule. Professionelle Kurskonzeption in Theorie und Praxis. München: Elsevier.
[8] Pfeifer, K. (2004). Prävention von Rückenschmerzen durch bewegungsbezogene Interventionen. Expertise im Auftrag der Bertelsmann Stiftung und der Akademie für Manuelle Medizin. Gütersloh, unveröffentlicht.
[9] Lühmann, D., Burkhardt-Hammer, T., Stoll, S. & Raspe, H. (2006). Prävention rezidivierender Rückenschmerzen. Präventionsmaßnahmen in der Arbeitsplatzumgebung. HTA-Bericht 38. Köln: DIMDI.
[10] May, S. (2010). Self-management of chronic low back pain and osteoarthritis. Nature Reviews Rheumatology, 6, 199-209.
[11] Bundesärztekammer (BÄK). Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV); Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz – Langfassung. Version 4.2010, zuletzt verändert August 2013. Im Internet: www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz
[12] Meng, K., Seekatz, B., Rossband, H., Worringen, U., Vogel, H. & Faller, H. (2011). Intermediate and long-term effects of a standardized back school for inpatient orthopedic rehabilitation on illness knowledge and self-management behaviors: a randomized controlled trial. Clin J Pain, 27, 248-257.
[13] Delitto, A. et al. (2012). Low back pain. Clinical practice guidelines linked to the international classification of functioning, disability, and health from the orthopedic section of the American Physical Therapy Association. J Orthop Sports Phys Ther, 42(4), A1-A57.
[14] Ribeiro, L.H., Jennings, F., Jones, A., Furtado, R., Natour, J. (2008). Effectiveness of a back school program in low back pain. Clin Exp Rheumatol, 26, 81–88.
[15] Tavafian, S.S., Jamshidi, A., Mohammad, K. & Montazeri, A. (2007). Low back pain education and short term quality of life: a randomized trial. BMC Musculoskelet Disord; 8:21.
[16] Tavafian, S.S., Jamshidi, A. & Montazeri, A. (2008) A randomized study of back school in women with chronic low back pain: quality of lilife at three, six, and twelve months follow-up. Spine, 33, 1617-21.
[17] Miles, C.L, Pincus, T., Carnes, D. et al. (2011). Can we identify how programmes aimed at promoting self-management in musculoskeletal pain work and who benefits? A systematic review of sub-group analysis within RCTs. Eur J Pain, 15, 775.e1-775.e11.
[18] Steffens, D., Maher, C.G., Perira, L.S.M., Stevens, M.L. et al. (2016). Prevention of low back pain. A systematic review and meta-analysis. JAMA Intern Med, doi: 10.1001/jamainternmed.2015.7431
[19] Hurley, J., O’Keeffe, M., O’Sullivan, P., Ryan, C., McCreesh, K. & O’Sullivan, K. (2016). Letter to the editor. Effect of education on non-specific neck and low back pain: A meta-analysis of randomized controlled trials. Manual Therapy, 23, e1-e2.

Für Rückmeldungen, Kritik, Lob, Anregungen zum Text und neuen Themen und alles Weitere: stefan.peters@dvgs.de

Gelesen 18985 mal Letzte Änderung am Montag, 04 Februar 2019 08:01

1 Kommentar

  • Kommentar-Link Tilo Späth Tilo Späth Montag, 10 Oktober 2016 18:45

    Sehr gute Entgegnung. Aus Sicht unserer BETSI (Präventionsprogramm der DRV) Evaluation, die zum Teil aus Rückenschulungselementen, Information zur Verhältnisprävention, dem Erlernen von Übungen (auch zur Entspannung) sowie der Motivationsschulung, diese zu Hause selbstständig auch weiter zu führen besteht, können wir eine nachhaltige Wirksamkeit dieser Interventionen aufzeigen (hier: WAI, FABQ).

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