Ein innovatives Therapiekonzept mit einem Roboterball bei Schlaganfallpatienten

Ausgangspunkt: Symptomatik nach dem Schlaganfall und die neuronale Plastizität

Der Schlaganfall ist ein folgenschweres Ereignis für das Leben der Betroffenen und statistisch die häufigste Ursache einer bleibenden Behinderung [1]. Pro Jahr ereignen sich ca. 196.000 erstmalige und 66.000 wiederholte zerebrale Insulte [2], wobei ca. 75% der Betroffenen überleben [3]. Die steigende Lebenserwartung als Merkmal des demografischen Wandels in unserer Gesellschaft führt zu einem höheren Patientenaufkommen und damit zu vermehrtem Rehabilitationsbedarf. Zu den charakteristischen, oftmals persistierenden Symptomen gehören eine gestörte Muskel- und Bewegungskontrolle, Schmerzen, Empfindungsstörungen sowie ein reduziertes Bewegungsausmaß in Verbindung mit erhöhtem Muskeltonus [4]. Nach dem zerebralen Insult ist bei ca. 50% der Patienten der Arm der betroffenen Körperhälfte nicht mehr funktionsfähig [5]. Die Einschränkungen der oberen Extremität wird von den betroffenen Patienten jedoch mit besonders weitreichenden und einschneidenden Konsequenzen erlebt [6]. Die Symptomatik führt zu einer eingeschränkten selbstständigen Verrichtung von Aufgaben des alltäglichen Lebens was sich auch negativ auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität auswirkt [4,7,8].

Die Rehabilitation nach Schlaganfall basiert heutzutage auf Erkenntnissen zur neuronalen Plastizität [9,10]. Durch die Anpassungs- und Reorganisationsfähigkeit kortikaler Areale lassen sich entstandene Schädigungen zum Teil kompensieren und verlorene Fähigkeiten und Fertigkeiten wiedererlangen. Theoretisch kann eine dynamische neuronale Reorganisation durch jede bewegungstherapeutische Intervention induziert werden [11].

Neue Therapieangebote im Zeichen technologischer Entwicklung

Vielfältige Umsetzungen neuer Ideen zur Schlaganfalltherapie unter Nutzung verschiedener Hard- und Software sind dokumentiert [1216]. Zumeist werden Bewegungen der unteren oder oberen betroffenen Extremität durch Sensorik aufgezeichnet. Diese Daten sind dann die Grundlage für digitale, spielerische oder alltagsnahe Bewegungsaufgaben. Der Patient benutzt dazu seine beeinträchtige Körperhälfte und versucht motorisch aber auch kognitiv anspruchsvolle Aufgaben zu lösen. Zumeist wird der Therapieinhalt auf einem Fernseher oder Tablet präsentiert. Die Begriffe „Serious Gaming“ bzw. „Exergaming“ fassen den Einsatz von Computerspielen zu rehabilitativen Zwecken zusammen und sind auch im Bereich der Schlaganfallrehabilitation etabliert [1720].

Bedarf bei chronischen Schlaganfallpatienten

Für viele der neuen Rehabilitationssysteme ist aufgrund der Komplexität ausschließlich ein fachlich betreuter Einsatz im klinischen Setting denkbar. Gleichzeitig besteht bei Schlaganfallpatienten aber ein hoher kontinuierlicher Therapiebedarf, um durch wiederholtes Üben Bewegungsfähigkeiten und -fertigkeiten zu trainieren. Ziel sollte es deshalb sein, die absolute Therapiezeit zu verlängern, unter anderem in Form einer selbstständigen, motivierenden und effektiven Trainingsmöglichkeit im häuslichen Umfeld. Das könnte eine wertvolle Ergänzung zu den üblichen Therapieanwendungen darstellen. Insbesondere bei chronisch betroffenen Patienten wiederholen sich Therapieinhalte. Ziel ist es also auch, die langfristige Therapietreue (Compliance) durch innovative, motivierende Therapieangebote zu stärken. Verbunden wird dies durch Spaß und einer positiven Einstellung bei der Bewegung der betroffen Körperhälfte. Dabei sollte geeignete innovative Technik auch für spezielle Zielgruppen (hier: chronisch betroffene Schlaganfallpatienten mittleren bis hohen Alters) und nicht ausschließlich für den kommerziellen Massenmarkt eingesetzt werden können. Damit kann ein völlig neues Anwendungsfeld im Rahmen der Rehabilitation neurologischer, orthopädischer und innerer Erkrankungen erschlossen werden und das Therapieangebot durch zielorientierte, motivierende Inhalte erweitert werden.

Ein Roboterball in der Rehabilitation?

 Abb. 1Abb. 1
Abbildung 1: Der Roboterball „Sphero 2.0“ (Orbotix, CO)

Bei der Suche nach weiteren, innovativen Komponenten, die sich potenziell zur Rehabilitation nach einem Schlaganfall eignen, wurde der Roboterball „Sphero 2.0“ (Orbotix, CO) (Abb. 1) getestet. Für dieses Gerät steht eine Vielzahl an spielerischen Apps zur Verfügung, wobei der Ball entweder über den Boden rollt oder in der Hand gehalten wird. Bewegungsinformationen des Smartphones werden via Bluetooth in eine zielgerichtete Bewegung des Balls umgesetzt und umgekehrt Bewegungsinformationen des Balls an das Smartphone oder Tablet weitergegeben. Bisher wird der Ball als elektronisches Spielzeug verkauft und zum Teil zur edukativen Zwecken (Erlernen von Programmierung) eingesetzt.

 Abb2 Abb2
Abbildung 2: Training der betroffenen oberen Extremität mit der App „Sphero“: Durch Bewegung des an der Hand befestigten Smartphones wird der Roboterball über den Boden ferngesteuert. Variable, spielerisch-motivierende Bewegungsaufgaben können in Abhängigkeit von der Leistungsfähigkeit mit einfachen Hilfsmitteln aufgebaut werden. Ein externes Feedback des Bewegungsvollzugs erfolgt über Bewegung des Roboterballs.

Mit Hilfe des Roboterballs, drei existierenden Apps, einem Tablet sowie einem Smartphone wurde vom Autor an der TU Chemnitz ein Therapiekonzept entwickelt, bei dem der Roboterball erstmalig in der Neurorehabilitation in abwechslungsreicher, spielerischer Art und Weise eingesetzt wird [21]. Der Patient versucht die jeweilige Bewegungsaufgabe zu lösen und führt dabei therapeutisch sinnvolle Bewegungen der oberen Extremität aus (Abb. 2 + 3). Übergeordnetes Ziel ist die Verbesserung alltagsnaher Bewegungen, die beim Patienten durch die bestehende Symptomatik noch defizitär sind. Dazu zählen das Greifen von Gegenständen, die Mobilität der Hand in allen Bewegungsrichtungen sowie die Bewegung des Armes.

 Abb3 Abb3
Abbildung 3: Training der betroffenen Hand mit der App „Chromo“: In Abhängigkeit des Schweregrads der Symptomatik wird der Roboterball ausschließlich mit der betroffenen Hand oder mit Unterstützung der gesunden Hand gehalten und nach Spielvorgabe in alle Bewegungsrichtungen gedreht. Spielvariationen erlauben das alltagsnahe Training vom Greifen, Bewegen und Loslassen von Gegenständen aus unterschiedlichen Positionen und mit variierenden Greifarten. Ein Punkt in der App gibt das externe Feedback zur Bewegung der Hand. Die Erfolgskontrolle der Bewegung erfolgt über den Farbwechsel nach korrekter Bewegung.

Neben der Motorik werden auch kognitive Komponenten (Aufmerksamkeit, Konzentration) trainiert. Im Fokus stehen die motivierende Gestaltung der Therapieinhalte und der Spaß an der Bewegung der betroffenen Körperhälfte für den Patienten. Während des Spielverlaufs und beim Erreichen des Spielziels geben der Roboterball und Apps eine direkte Rückmeldung über die aktuelle Leistung (knowledge of performance) und das Ergebnis der eigenen Handlung (knowledge of results). Die Spielinhalte können kreativ und variabel an die heterogenen Leistungsvoraussetzungen und Bedürfnisse der Patienten angepasst werden.

Wie profitieren die Patienten von dem Therapiekonzept?

Nach anfänglicher Prüfung der Machbarkeit [21] sowie der weiteren Erprobung und Evaluation [2224] kann festgestellt werden, dass die zusätzliche Therapie mit dem Roboterball bisherige Standardverfahren gewinnbringend ergänzen konnte. Nach Abschluss der Trainingsphase mit dem Roboterball konnten eine verbesserte Greifkraft sowie unilaterale Geschicklichkeit, verbunden mit verbesserter Funktionsfähigkeit im Alltag der Patienten dokumentiert werden. Das wirkte sich positiv auf das subjektive Gesundheitsempfinden aus. Oftmals waren Patienten erneut motiviert, die betroffene Körperhälfte wieder mehr im Alltag zu benutzen. Außerdem berichteten die Patienten von konkreten alltagsrelevanten Erfolgen wie verbessertes Greifen und Benutzen von Gegenständen (z. B. Wäsche aufhängen, Kochen, Geschirr tragen, mit Tastatur schreiben). Auffällig war der Ehrgeiz aber auch der Spaß beim Nutzen der betroffenen oberen Extremität. Erfolgserlebnisse während des Trainings und im Alltag trugen dazu bei, die Notwendigkeit und das Potenzial zur Funktionsverbesserung nachzuvollziehen auch die beeinträchtigte Hand und Arm häufiger zu benutzen. Die teilweise großen Effekte infolge des neuen, unbekannten Trainingsreizes sowie der unproblematische Umgang mit innovativer Technologie förderten das Selbstbewusstsein sowie die die Erkenntnis, dass auch noch Jahre nach dem Vorfall positive Veränderungen erreichen werden können. Die Anwendung bei neurologischen Patienten profitierte von der hervorragenden Benutzerfreundlichkeit des Roboterballs und der im Vergleich mit anderen Spielen einfachen Gestaltung der Apps. Nach den positiven Erfahrungen im Rahmen der Forschungsarbeit zeigten sich Patienten, Therapeuten und Ärzte sehr überzeugt von der Anwendung des Roboterballs verbunden mit den neuen Therapieinhalten. Es bestand große Nachfrage, dieses Training fortzuführen.

Take home messages

  1. Der Therapieansatz ist durch seinen weit reichenden Gestaltungsspielraum für Schlaganfallpatienten mit heterogenem Schwere- und Ausprägungsgrad der bestehenden Symptomatik geeignet.
  2. Die zusätzliche Therapie mit dem Roboterball konnte die Standardtherapie gewinnbringend ergänzen. Positive Veränderungen hinsichtlich der isometrischen Greifkraft, der unilateralen Geschicklichkeit sowie des subjektiven Gesundheitsempfindens konnten nach dem ergänzenden Roboterballtrainings gemessen werden.
  3. Das Therapiekonzept erwies sich für die Patienten als besonders motivierend und unterhaltsam. Der motorische Benefit ließ sich für mehrere Patienten auf spezielle Alltagssituationen übertragen.
  4. Die objektive Datenanalyse, subjektive Beobachtungen sowie Patientenberichte zeigten den größten Benefit des Therapiekonzepts für moderat betroffene Patienten. Besonders schwere motorische oder kognitive Einschränkungen konnten unüberwindbare Barrieren für die Patienten darstellen; das Therapiekonzept konnte in Einzelfällen deshalb nicht angewendet werden.
  5. Die Benutzerfreundlichkeit wurde von den Patienten als hervorragend bewertetet. Das Steuerungskonzept war nachvollziehbar und der Umgang mit den verbundenen Geräten und Apps unkompliziert.

Korrespondenzadresse

Korrespondenzadresse
Tilo Neuendorf Technische Universität Chemnitz
Institut für Angewandte Bewegungswissenschaften
Professur Sportmedizin/-biologie
Thüringer Weg 11
09126 Chemnitz
E-Mail: tilo.neuendorf@hsw.tu-chemnitz.de

Literaturverweise

  1. Schubert F, Lalouschek W. (2006). Schlaganfall. In: Lehrner J, Pusswald G, Fertl E, Strubreither W, Kryspin-Exner I (Hrsg.). Klinische Neuropsychologie Grundlagen - Diagnostik - Rehabilitation. Springer. 345–356.
  2. Heuschmann P, Busse O, Wagner M et al. (2010). Schlaganfallhäufigkeit und Versorgung von Schlaganfallpatienten in Deutschland. Aktuelle Neurologie 37(07):333-340.
  3. Palm F, Urbanek C, Rose S et al. (2010). Stroke Incidence and Survival in Ludwigshafen am Rhein, Germany. Stroke 41(9):1865-1870.
  4. Langhorne P, Coupar F, Pollock A. (2009). Motor recovery after stroke: a systematic review. The Lancet Neurology 8(8):741-754.
  5. Broeks J, Lankhorst G, Rumping K et al. (1999). The long-term outcome of arm function after stroke: results of a follow-up study. Disability and rehabilitation 21(8):357-364.
  6. Barker R, Brauer S. (2005). Upper limb recovery after stroke: the stroke survivors’ perspective. Disability and rehabilitation 27(20):1213-1223.
  7. Abubakar S, Isezuo S. (2012). Health related quality of life of stroke survivors: experience of a stroke unit. Int J Biomed Sci 8(3):183-187.
  8. Haghgoo HA, Pazuki ES, Hosseini AS et al. (2013). Depression, activities of daily living and quality of life in patients with stroke. Journal of the neurological sciences 328(1):87-91.
  9. Nadeau SE. (2002). A paradigm shift in neurorehabilitation. The Lancet Neurology 1(2):126-130.
  10. Taub E, Uswatte G, Elbert T. (2002). New treatments in neurorehabiliation founded on basic research. Nature Reviews Neuroscience 3(3):228-236.
  11. Hauptmann B. (2007). Von der Theorie zur Praxis: Grundlagen prozedualen und motorischen Lernens. In: Dettmers C, Bülau P, Weiller C (Hrsg.). Schlaganfall Rehabilitation. Hippocampus. 25-52.
  12. Allet L, Knols RH, Shirato K et al. (2010). Wearable systems for monitoring mobility-related activities in chronic disease: a systematic review. Sensors 10(10):9026-9052.
  13. Bonato P. (2010). Wearable sensors and systems. IEEE 29(3):25-36.
  14. Patel S, Park H, Bonato P et al. (2012). A review of wearable sensors and systems with application in rehabilitation. J Neuroeng Rehabil 9(12):1-17.
  15. Teng X-F, Zhang Y-T, Poon CC et al. (2008). Wearable medical systems for p-health. IEEE 1:62-74.
  16. Zubiete ED, Luque LF, Rodriguez AVM et al. (2011). Review of wireless sensors networks in health applications. Engineering in Medicine and Biology Society Conference of the IEEE.
  17. Alankus G, Lazar A, May M et al. (2010). Towards Customizable Games for Stroke Rehabilitation. CHI 2010: Therapy and Rehabilitation.
  18. Burke J, McNeill M, Charles D et al. (2009). Serious games for upper limb rehabilitation following stroke. VS-GAMES.
  19. Ferreira C, Guimarães V, Santos A et al. (2014). Gamification of stroke rehabilitation exercises using a smartphone. 8th International Conference on Pervasive Computing Technologies for Healthcare.
  20. Göbel S, Hardy S, Steinmetz R et al. (2011). Serious Games zur Prävention und Rehabilitation. 4. Deutscher AAL-Kongress.
  21. Neuendorf T, Zschaebitz D, Nitzsche N, Schulz H. (2017). Neurorehabilitation mit einem Roboterball – ein geeignetes Therapiekonzept? Neurorehabilitation with a robotic ball – an applicable therapy concept? Neuroreha 9(1):41-44.
  22. Neuendorf T, Zschaebitz D, Nitzsche N, Schulz H. (2017). Movement Therapy of the Upper Extremities with a Robotic Ball in Stroke Patients: Results of a Randomized Controlled Crossover Study. Neurology International Open 1(4): E326-E335.
  23. Neuendorf T, Zschaebitz D, Nitzsche N, Schulz H. (2017). A robotic ball for upper-extremity training in stroke patients: a new approach in neurorehabilitation. Neurology International Open 1(3):E232–E241.
  24. Neuendorf T, Zschaebitz D, Nitzsche N, Schulz H. (2017). Usability und Barrieren eines im Rahmen der Neurorehabilitation nach Schlaganfall eingesetzten Roboterballs. Neurologie & Rehabilitation 23(4):300–305.
Gelesen 12591 mal Letzte Änderung am Freitag, 01 Februar 2019 11:08

Schreibe einen Kommentar

Mit der Nutzung dieses Kommentar-Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden.