Professionelle Patientenleitlinien, so könnte man sagen, sind wichtiger denn je. Die Zunahme chronischer Erkrankungen und eine enorme Vielzahl an Behandlungsangeboten sind nur zwei Begebenheiten die das unterstreichen. Insbesondere chronisch Kranke tun gut daran, Experten Ihrer Erkrankung zu werden. Der Wust an Behandlungsangeboten und Gesundheitsinformationen macht es ihnen nicht leicht. Das Internet ist oft nicht hilfreich, weil nicht für jeden Benutzer sofort einsichtig ist, welche Quellen seriös sind. Selbst aus seriösen Quellen können zudem immer noch tendenziöse Informationen stammen. Auch Gesundheitsfachleute sind nicht immer hilfreich. Es ist nicht garantiert, dass einzelne Berufsgruppen einen Überblick haben über das Behandlungsspektrum anderer Fachbereiche und dessen Wirksamkeit.
Interdisziplinäre Patientenleitlinien, welche sich nach wissenschaftlicher Evidenz richten, sind daher das Gebot der Stunde.

Neue Patientenleitlinie Psychoonkologie

Kürzlich wurde eine neue Patientenleitlinie vorgestellt mit dem Titel „Psychoonkologie – Psychosoziale Unterstützung für Krebspatienten und Angehörige“ [1]. Sie wurde auf Grundlage der S3-Leitlinie „Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten“ [2] erstellt. Psychoonkologie befasst sich mit den psychosozialen Aspekten einer Krebserkrankung und zielt darauf ab, dass PatientInnen mit den Folgen der Erkrankung besser umgehen können [3]. Die Patientenleitlinie wurde von einem breiten Autorenkreis verfasst und arbeitet auf über 100 Seiten einen breiten Themenkreis ab. Auch „Physio- und Bewegungstherapie“ werden hierbei behandelt. Hierzu seien ein paar Punkte angemerkt.

Bewegungstherapie kann mehr

In der psychoonkologischen Leitlinie wird das Thema Bewegungstherapie im Kapitel „Andere Möglichkeiten“ aufgeführt, während es für Entspannungsverfahren, Psychotherapie, Künstlerische Therapie etc. eigene Kapitel gibt. Es kann der Eindruck entstehen, dass die extra gestellten Ansätze höhere Wichtigkeit haben. Dabei hat z. B. die künstlerische Therapie („kann“ angewendet werden – offene Empfehlung) eine geringere Evidenzbasis als die Bewegungstherapie („soll“ angewendet werden – starke Empfehlung) [3].
Als Effekte der Bewegungstherapie werden in der Leitlinie genannt: Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, Behandlung von Nebenwirkungen der Therapie (z. B. Steigerung der reduzierten Muskelkraft), Schulung der Körperwahrnehmung, Verbesserung des seelischen Befindens, Steigerung von Ausdauer und Beweglichkeit, Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität und Minderung von Fatigue. Für Yoga wird auch eine Linderung von Ängsten beschrieben. Während schon einige Punkte aufgeführt sind, so fehlen doch 3 wichtige Zielgrößen der Psychoonkologie: Depressionen, Angststörungen (sieht man von dem zarten Hinweis bei Yoga ab) und Schmerzen. Dies ist unverständlich. In großen Metaanalysen wurden Effekte von Bewegungsinterventionen auf Depressionen, bzw. depressive Symptome [4,5], Schmerzen [5] und Angst [6] bei Personen mit Krebs festgestellt. Letztere Analyse von Speck und Kollegen fand übrigens auch einen Effekt auf das Selbstwertgefühl [6]. Weiterhin hat sich Bewegung als wirksam erwiesen für die kognitive Funktionsfähigkeit und gegen Schlafprobleme [7]. Letztere scheinen wiederum auch durch Yoga im Speziellen positiv beinflussbar zu sein [8]. Die genannten Wirkungen sind in der Patientenleitlinie nicht beschrieben.

Wo findet man weiterführende Informationen?

Was außerdem schade ist: Während an zahlreichen anderen Stellen in der Leitlinie die Chance genutzt wurde, Weblinks für weiterführende Informationen einzufügen, fehlt dies im Kapitel Bewegungstherapie. Dabei haben die Mitherausgeber der Leitlinie, Deutsche Krebshilfe und Deutsche Krebsgesellschaft, einen eigenen Ratgeber „Bewegung und Sport bei Krebs“, der online frei verfügbar ist [9]. Immerhin wird am Ende der Leitlinie etwas versteckt auf die Existenz der blauen Ratgeber hingewiesen. Einen Hinweis auf die zahlreichen Krebssportgruppen im Land bleibt die Leitlinie allerdings gänzlich schuldig.

Fazit

Die Patientenleitlinie hat viel Gutes an sich, was hier nicht zur Sprache kam, weil es nur um den Teilbereich Bewegung ging. Alles in allem hätte es der Patientenleitlinie gut getan, wenn auch Bewegungsfachleute in der Autorenschaft dabei gewesen wären. Die starke Evidenz von Bewegung in der Psychoonkologie würde dies mehr als rechtfertigen.
Dann würden unter den Experten der Psychoonkologie ([3], S.11)  auch die SporttherapeutInnen, Sport- und GymnastiklehrerInnen und SportwissenschaftlerInnen, die im Bereich der Bewegung mit KrebspatientInnen beschäftigt sind, neben den bereits aufgeführten PhysiotherapeutInnen auftauchen.

(sp) – stefan.peters@dvgs.de

Quellen:
1. ärzteblatt.de: Krebskongress 2016: Neue Patientenleitlinie zur Psychoonkologie. 2016; online verfügbar unter: http://mobile.aerzteblatt.de/news/65884.htm, abgerufen am 6.3.2016
2. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten, Kurzversion 1.1, 2014, AWMF-Registernummer: 032/051OL, http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Leitlinien.7.0.html, [Stand: 06.03.2016]3. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologie. Psychosoziale Unterstützung für Krebspatienten und Angehörige. Patientenleitlinie. Februar 2016; abgerufen am 6.3.2016 unter http://leitlinienprogramm-onkologie.de/uploads/tx_sbdownloader/Patiententleitlinie_Psychoonkologie.pdf
4. Fong DYT, Ho JWC, Hui BPH, Lee AM, Macfarlane DJ,…, Cheng K-K: Physical activity for cancer survivors: meta-analysis of randomized controlled trials. BMJ. 2012; 344:e70. doi: 10.1136/bmj.e70.
5. Craft LL, Vaniterson EH, Helenowski IB, Rademaker AW, Courneya KS: Exercise effects on depressive symptoms in cancer survivors: a systematic review and meta-analysis. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev. 2012; 21:3-19.
6. Speck RM, Courneya KS, Mâsse LC, Duval S, Schmitz KH: An update of controlled physical activity trials in cancer survivors: a systematic review and meta-analysis. J Cancer Surviv. 2010; 4: 87-100.
7. Mustian KM, Sprod LK, Janelsins M, Peppone LJ, Mohile S: Exercise recommendations for cancer-related fatigue, cognitive impairment, sleep problems, depression, pain, anxiety, and physical dysfunction: a review. Oncol Hematol Rev. 2012; 8(2): 81-88.
8. Mustian KM, Janelsins M, Peppone LJ, Kamen C: Yoga for the treatment of insomnia among cancer patients: evidence, mechanisms of action, and clinical recommendations. Oncol Hematol Rev. 2014; 10(2): 164-168.
9. Deutsche Krebshilfe. Die blauen Ratgeber Nr. 48: Bewegung und Sport bei Krebs. 2014; online abrufbar unter: http://www.krebshilfe.de/fileadmin/Inhalte/Downloads/PDFs/Blaue_Ratgeber/048_0104.pdf